Tag 1: Aller Anfang ist schwer

Sitzend in einem Strassencafé in Bayonne würde nun diese Reise langsam beginnen, die ich so lange im Kopf hatte, doch nie genug Zeit fand sie umzusetzen. 2015 wäre angepeilt gewesen, ich, junge 19 Jahre alt und frisch zwischen Gymnasium und Studium. Hatte mir schon alles ausgedacht. Den Jakobsweg dort zu starten, wo wir mit der Pilgergruppe aus Schüpfheim an der Grenze zwischen Schweiz und Frankreich aufgehört hatten. Mindestens 2, wohl eher 3 Monate hätte ein solches Unterfangen in Anspruch genommen und ich hatte mir in den letzten Monaten meiner Gymnasiumszeit ausgemalt, wie das dann werden könnte. Die Packliste war schon bereit, Material schon eingekauft. Eigentlich hätte es losgehen können. Es rufte aber die Militärpflicht und darauffolgend nach dessen Halbzeit der Wechsel in den Zivildienst und die Konfrontation mit der bitteren Tatsache, dass es nicht mehr klappen würde mit dem Camino vor dem Studium. 2019 wäre ein erneuter guter Kandidat gewesen. Ich zwischen Bachelor- und Masterstudium und zeitlich zumindest in der Möglichkeit, den Camino Francés zu machen. Entschied mich dann aber für eine Reise der Loire entlang von Lyon nach Nantes im benachbarten Frankreich mit dem Fahrrad. Ein schönes und herbstiges Unterfangen war das. Und ich dachte mir dabei: September wäre ein guter Monat für den Jakobsweg. Wohl also nach dem Masterstudium? Die Idee wurde konkret. Die Finanzen jedoch eher knapp. Könnte ich mir das leisten, einfach so weg nach Ende Studium? Nicht nur finanziell — vor allem auch das Loslassen von jeglichen Verpflichtungen wo immer ich dann auch stehe? Im Frühling 2022 dann die Tatsache: Es wäre ein guter Zeitpunkt. Ein idealer Zeitpunkt. Jetzt im September 2022. Ich hätte genügend Zeit in den Herbst hinein, könnte vielleicht sogar bis nach Finisterre an den Atlantik und gar Portugal laufen. Eine wunderbare Vorstellung. Die Küste nach über 800 Kilometern quer durch das Inland zu erreichen. Die Wohnung in Zürich habe ich an Silvana untervermietet für September und Oktober. Meine derzeit einzige Verpflichtung wird sein, auf den 24. Oktober zurück zu sein. Dann fängt mein Zivildienst an. Ich könnte Robi in Barcelona besuchen. Elias kommt vielleicht nach Porto. Und davor? 800 km durch das Inland von Spanien.

Nun, der Entschluss diesen Blog aufzusetzen kam relativ kurzfristig. Sonntagabend war unsere fünfköpfige Familie wieder einmal vollständig beisammen und meine Mutter Beátrice meinte ich könne doch einen Reiseblog aufsetzen.

Gut, dachte ich. So schlecht ist die Idee gar nicht. Dann muss ich auch nicht allen ständig Nachrichten schreiben wo ich denn so bin oder dauernd ein Lebenszeichen von mir geben. Hat aber den Nachteil, dass ich mir Internet und Strom und Zeit suchen muss, das Erlebte auch in dieses Format bringen zu können. Noch weiss ich nicht, ob ich mich verpflichten möchte, in regelmässigen Abständen hier etwas zu schreiben, oder ob ich es eher als Störfaktor sehen werde. Muss ich dann rausfinden

Ich einige mich derzeit darauf, es alle paar Tage zu versuchen zu Beginn der Reise und sehe dann wohin das führt. Würde mich vielleicht eher knapp halten und blumige Ausschweifungen erst im Nachhinein editieren bzw. einfügen, um nicht alle paar Tage einen Roman zu schreiben zu müssen am Handy. Ist ja schliesslich nicht die komfortabelste Art des Schreibens, mag ich doch Tastatur und einen etwas grösseren Bildschirm als bevorzugte Version des Tagebuchschreibens.

Bisher lief die Reise hervorragend. Ein Lob an die französische SNCF. Oder SCNF? Ich kann mir das nie merken. Es fühlt sich nach all den Jahren Sommerurlaub in Frankreich jedoch wunderbar vertraut an, deren Signaletik zu folgen. 5 Uhr ging der Wecker los heute in Zürich. 3h geschlafen, schaffte ich es doch erst um 2 Uhr morgens ins Bett. Die Wohnung aufzuräumen für Silvana hatte mich noch ein paar Stunden gekostet und war ich noch mit Jesse bis spät in die Nacht den letzten Abend am Ausklingen auf dem Parki. Umsteigen in Basel, Mulhouse, Paris. In Paris dann vom Gare de Lyon zum Gare Montparnasse umsteigen. Knappe Sache. Jetzt in Bayonne.

Es war ein sehr schöner, aber sehr intensiver August. Hatte viel Arbeit und gefühlt viel Vorarbeit für die drei Jobs, die ich derzeit mache und umso ungemütlicher die Vorstellung, das Wichtigste erledigen zu können bevor es losging. Ich würde den Laptop nicht mitnehmen. Eine grosse und wichtige Entscheidung. War dann auch gar nicht so viel baden im August in Zürich, wie ich mir das vorgenommen hatte. Vielleicht so alle drei Tage. Aber hätte mehr sein dürfen denke ich nun. Nun gings also los und halt nicht nur ein paar Tage und nicht mit Freund*innen, sondern ganz alleine und dies über mehr als einen Monat. Kein Remote Working. Kein urbanes Milieu. Trockenes Spanien. Waldbrände. Wassermangel. Der Sommer 2022 traf Spanien hart und so darf ich gespannt sein wie ich die Landschaft antreffen werde.

Schwer war nicht nur das Loslassen, sondern auch mein Rucksack. Satte 93 Kilogramm wog ich. Subtrahiert mit den 76 kg meiner Wenigkeit macht das 16 kg für den Rucksack. Doppelt so viel wie es empfohlen ist für den Pilgerweg. Wie konnte ich nur so viel reinpacken? Isomatte 800g, Zelt 1500g, Kocher mit Pfannen 1000g. Also auf jeden Fall 3.5kg welche man nicht zwingend bräuchte beim Pilgern. Rucksack wohl auch noch etwas Eigengewicht. Ich denke mit 10-12 kg würde ich ebenfalls zurechtkommen. Habe etwas Respekt vor dem grossen Pilgeransturm dieses Jahr. Rekordzahlen haben wir. Waren bei Hape Kerkeling 2001 schon nicht wenige unterwegs, waren wir 2015 bei 250k pro Jahr. Nun also über 350k, da wir ein heiliges Jahr haben. Hat der Papst so ausgerufen. Man werde von allen Sünden befreit wenn man in Santiago eintreffe. Hatte mal was von 500 Pilgern pro Tag gelesen, welche in Saint Jean de Port ankommen würden. Wären es mehr? Oder doch weniger? September sei neuerdings zur Hauptsaison avanciert und so stimmte mich das etwas stutzig, ob und wie ich unterwegs sein wollen würde. Doch den Camino Norte machen mit weniger Pilgeraufkommen? Ich erwägte lange diese Option. Könnte die Route immer noch verschieben, auch wenn es mich einige Tage kosten würde. Den Camino Francés zu machen wäre jedoch die volle Erfahrung — das «Original» quasi. Nun gut. So kommen also Zelt und Isomatte und Kocher mit für die maximale Flexibilität. Kann draussen schlafen wenn die Herbergen voll sind. Hotels und Pensionen wären die Alternative gewesen. Wie Kerkeling 2003. Aber deutlich teurer, wäre das dann doch 30-40 Euro pro Nacht schätze ich mal. Würde ich umpacken in Pamplona? Den Weg an die Nordküste wechseln? Ich werde morgen in Saint Jean mehr wissen. Heute im Zug nach Bayonne war der Waggon jedoch rammelvoll mit Pilgernden. Und die haben alle ordentlich kleine Rucksäcke dabei. Macht mich ganz neidisch. Die haben sicherlich die ganzen Herbergen durchreserviert, die Etappen durchgeplant. Möchte ich mit solchen Leuten in Kontakt treten? Was für Leute werden in mir die Lust wecken, mit Fremden einen Wegabschnitt und gemeinsame Momente zu teilen? Wird es ein Disneyland der Langstreckenwanderungen? Überfüllte Unterkünfte und Wanderwege? Habe ja mein Zelt dabei. Bleibt zu hoffen dass der Weg sich dafür eignet, das Zelt aufzustellen. Möchte ja doch gerne mit den Pilgernden in Kontakt treten!

Angekommen in Bayonne um 16.05 Uhr tauche ich in eine feuchtwarme Suppe. Hatte etwas kühlere Luft erwartet. Beim Ausstieg haut mich ein amerikanisches Pärchen an und der Mann fragte mich: „Saint Jean“? Ich gab zurück: „Ja, aber erst morgen“. Er musterte meinen Rucksack worauf ich ihm sagte dass ich schon ganz neidisch sei ob den leicht bepackten Pilgern. Er lachte nur. Auf dem Perron dann der kurze Blick nach lins und rechts. So viele waren es nun auch wieder nicht wie befürchtet. Und musste mich fortan korrigieren, als ich durch die Bahnhofshalle liegt. Bestimmt 40 bepackte Pilgernde. Probiere mich übrigens an die genderneutrale Form zu halten um mit Pilgern nicht nur die männliche Form anzusprechen. Mein Gendern macht Fortschritt. Ich lief durch den Bahnhofsvorplatz und fand mich im Hostel ein. Und merkte wie verdammt schlecht mein Französisch geworden war. Ich verstand kaum ein Wort. Irgend eine Chipkarte gab sie mir entgegen. Ich dachte erst das sei für die Duschen. War dann aber doch fürs Zimmer. Nichts Ungewöhnliches also.

Der Hunger begann mich nach dem Abladen des Rucksacks zu plagen und ich schnappte mir ein paar Imbisse im „Paul“. Der scheint überall in Frankreich zu sein unterdessen. Finde den gar nicht so schlecht. Ehrlich gesagt sogar ganz gut. Auf Paul ist Verlass, stets geöffnet, gute Auswahl, gut gelegen. Noch plagen mich die Gedanken, zu viel Gepäck mitgenommen zu haben. Habe noch keine vergleichbaren Artgenoss*innen angetroffen mit ähnlichen Gepäckvolumen. Andrin meinte ja es sei ein gutes Training. Ich probiere es damit zu motivieren. Morgen das erste Warp-Up mit kleiner Mini-Wanderung, dann bekomme ich vielleicht einen ersten Eindruck von der Sache und wie sich das auf Rücken und Kniegelenke auswirkt.

Ich durchstrief etwas Bayonne und musste merken, dass ich mir dieses Bayonne doch sehr viel kleiner vorgestellt hatte. Scheint mir eine ordentliche Grösse zu haben. Nach einem kurzen Besuch in der grossen gotischen Kirche kam der Reminder, dass ich über Architekturgeschichte gerne etwas lesen möchte während dem Weg. Hatte ich die richtigen Bücher dazu auf meinen Onyx E-Reader geladen? Oder wäre europäische oder katholische Geschichte dazu notwendig? Hab ja eigentlich keine Ahnung von dem allem. Eindruck macht es aber alle mal. An bester Lage fand ich mich in einem Café wieder und bestellte ein „alongée“. Vor mir die Kathedrale, links von mir zwei ältere Frauen in ihr Handy starrend. Telefonieren auf Lautsprecher in der Öffentlichkeit hat sich ja scheinbach schleichend durchgesetzt in unserer Gesellschaft. Zum Glück verstehe ich kein Wort davon sonst würde es mir noch auf die Nerven gehen.

Obwohl ich nur 3 Stunden Schlaf hatte bin ich noch erstaunlich fit auf den Beinen. Sollte mich jedoch nicht davon täuschen lassen und werde heute früh ins Bett gehen hier mitten in der Altstadt von Bayonne.

Der Plan für morgen ist nach Biarritz zu reisen am Morgen. Dann nach Saint Jean. Pilgerpass holen und so eine Stunde in die Höhe laufen. Dann wäre am Donnerstag weniger zu machen, ist diese Etappe doch nicht zu unterschätzen für den Start. Freue mich auf morgen.